Prolog
Liebe Kathrin
Es war an einem dieser nebligen, düsteren Novembertage. Der Nebel hielt sich bereits seit Wochen hartnäckig, trübte das Tageslicht und schien alles zu verschlingen. Seine klamme Kälte liess einem bis auf die Knochen frieren. Ich ging den gewohnten Weg, den ich immer nehme, wenn ich einen Spaziergang mache, verloren in düsteren Gedanken, ohne dass ich sie wirklich wahrnahm, auch den Weg nicht, nicht die Bäume, nicht die Sträucher.
Plötzlich nahm ich etwas wahr, eine Bewegung rechts in den Gebüschen. Ich fuhr herum. Ein Reh vielleicht? Nein, es war kein Reh, ein hochgewachsener Mann zwängte sich zwischen den Zweigen einiger hier dicht stehenden Büsche hervor, trat auf den Weg, sah kurz an sich herunter und schnippte mit den Fingern kleine Aststückchen, die sich da und dort an seinem grauen Wollmantel verfangen hatten, wie mit einem Achselzucken weg.
Dann blickte er auf und sah mich geradewegs an, beugte leicht sein Haupt und zog den Hut eine Handbreit nach vorn und grüsste mich freundlich und so leichthin, nicht, als wäre er beinahe aus dem Nichts aufgetaucht, nicht, als hätte er sich durch dichtestes Gebüsch gezwängt. Was genau genommen unsinnig war, da der Wald rings herum weit und luftig ist.
«Grüss Gott», sagte er sanft, «Ich werde Euch jetzt begleiten!»
«Mich begleiten?», stammelte ich, «Ich brauch doch keine Begleitung!»
«Oh, doch! Ihr wisst nicht, wie gefährlich die Gegend hier ist!»
Ich sah mich um. Diesen Weg war ich bestimmt schon tausend Mal gegangen. Hier kannte ich mich aus. Im Frühling wachsen hier am Wegrand Einbeeren und dunkle Akeleien, später überzieht das goldgelbe Springkraut die Fläche bis zu den Bäumen, da wo das Sommerlicht hinfiel, und da vorne blühen den Sommer durch die Stauden des zartrosa blühenden Wasserdosts, welche unzähligen Insekten bis weit in den Herbst mit Pollen und Nektar anlockt. Und da drüben, den Hang hinauf, da stehen sparrige Tollkirschenstauden zuhauf.
Der Unbekannte schien meinen Blicken gefolgt zu haben, denn er unterbrach meinen Gedankengang abrupt: «Ja, genau dorthin müssen wir uns bewegen, dort, den Hügel hinauf, wo im Sommer die Tollkirschen blühen.
Du verstehst mich sicher gut, liebe Kathrin, ich war verwirrt. Irgendwie überrumpelt.
«Wieso sollte ich mit Ihnen da hinauf gehen? Da ist kein Weg, nur ein Wildwechsel. Und der führt nirgendwo hin, nur zu einem steilen Abhang. Mein Weg führt geradeaus», ich machte einen Schritt zur Seite, um meinen Weg allein weiterzugehen.
Der Unbekannte trat ein wenig näher, sah mich mit seinen graublauen Augen an, lange sehr lange. Normalerweise würde ich wegschauen. Aber in diesem Blick – ach, wie soll ich das beschreiben – war eine Milde, ein Verstehen, eine Güte. Ich blieb tief betroffen stehen. «Wer seid ihr denn?»
«Mein Name tut nichts zur Sache. Vertraut mir.»
Vielleicht nennst du mich leichtsinnig, liebe Kathrin. Doch es war diese nicht beschreibbare Milde, die seinem Wesen entströmte, dass ich ihm zunickte: «Nun gut, dann könnt Ihr mich belgeiten.»
Er nahm meinen Arm und führte mich den Wildwechsel hinan. Ich fragte nicht wohin, ich fragte nicht, weshalb es gefährlich sei.
Und wiederum schien er in mir zu lesen: «Es sind oft die Gedanken, die als Gespenster und Trolle in den Nebeln lauern.» Und als er es sagte, wurde der Nebel so dicht, dass ich kaum noch den Weg sah, den wir gingen.
Ich hörte das dunkle, laute Krächzen eines Kolkraben. Dann ein Wispern und Zischeln ringsum, bald ein Knacken und Krachen, als würde ein Baum unter seinem Gewicht ächzen. Ich hatte keine Angst.
Der Weg führte immer weiter und weiter und ich merkte, dass wir uns in einem Wald befanden, den nicht der war, den ich kannte.
Als wir so ungefähr eine Stunde oder mehr schweigend durch den Nebel gewandert waren, lichtete sich dieser und machte einem warm goldenen Leuchten statt. Ein Kuckuck rief von Ferne, ich hörte das Gebimmel von Kuhglocken, das Meckern von Schafen, das Geläut einer weit entlegenen Kirchenglocke. Als ich mich umschaute, blieb mir der Atem stehen: Der Waldboden war ein Meer von blau blühenden Elfenkrokussen, mit goldgelben Sprenkeln von eben erst erblühtem gelbem Windröschen..
Der Unbekannte blieb stehen. «Ihr könnt jetzt allein weitergehen. Einfach gerade aus. Man erwartet Euch, Ihr werdet gebraucht.»
«Aber!», wollte ich noch rufen, doch er hatte bereits rechts umkehrt gemacht und verschwand in einem Hain knorrig alter Eichen.
So ging ich weiter, durch den lichter werdenden Wald, genau wie mich der Unbekannte geheissen hatte. Noch immer war ich in einem milden Zustand der Entrücktheit.
Ich erreichte den Waldrand und blickte auf eine Landschaft, mit sanften Hügeln, die im schönsten Frühlingskleid strahlte. Da, endlich konnte ich wieder atmen. Als wäre eine Last von mir gefallen. Still blieb ich stehen, nahm die Schönheit dieser friedlichen Gegend in mir auf. Ich sah frisch gepflügte Äcker, frühlingsgrüne Wiesen, kleine Wäldchen, Weiher in Mulden, ja, ich vermeinte sogar Rosse wiehern zu hören. Eine verwitterte Bank stand da, gerade richtig, dass ich mich setzen und so ankommen konnte. “Ich bin da. Ich bin wahrhaftig da“, dachte ich unentwegt.
Dort, in der Ferne, auf dem höchsten der sanften Hügel sah ich die Turmspitze des Schlosses. Ja, ich war angekommen. Ich würde noch eine Weile ausruhen und mich dann auf den Weg machen. Oh, wie sehr ich mich freute!
Episode 1
Ich stehe vor dem Schlosstor blicke in den Hof, indessen Mitte der Apfelbaum in voller Blüte steht, eine Bank darunter, Blumenrabatte mit weissen Narzissen, goldenen Schlüsselblumen, Weinbergtulpen, Lerchensporn, inmitten hunderter, frisch erblühten Blausternen. Ich höre Hunde bellen und Rosse wiehern. Tauben turteln auf den Zinnen der zahlreichen Schlosstürmchen. Rosen ranken zwischen Geissblatt und Hopfen blühend und duftend die Schlossmauern empor. Es ist alles genau so, wie ich es in Erinnerung habe.
Doch etwas stimmt nicht. Es ist niemand hier. Keine Kinder spielen fröhlich im Hof und Garten des Schlosses. Der alte Mann, der sonst immer in der Nähe ist, die Wege wischt oder die Rosen pflegt, ist ebenfalls nicht zu sehen. Keine verführerischen Küchendüfte erfüllen die Luft. Das schloss scheint wie ausgestorben.
Da ertönt Glockengeläut, dasselbe, das ich von weitem schon gehört habe. Es sind die Glocken einer kleinen Kapelle inmitten des herrlichen Schlossparks. Das ist keine Feier, weder Hochzeit noch Geburtstag noch Trauerfeier, mutmasse ich, sonst wären Kutschen zuhauf parkiert, Diener und Stallknechte würden die Pferde versorgen. Die Mägde würden hin und her eilen, die Tische draussen mit dem kostbaren Geschirr decken. Aus der Küche würden alle erdenkliche Gerüche strömen, kurz, es wäre viel Betrieb. Aber hier ist kein Mensch zu sehen. Mir ist nicht geheuer.
Da erscheint Magda, die Küchenmagd, mit verquollenen, tränenden Augen, die sie mit dem Handrücken abwischt. Sie erblickt mich und stürzt mir entgegen.
«Oh, meine Liebe, vor lauter…», sie schluchzt auf, «Vergebt uns. Wir haben nicht mehr an Euch gedacht. Dass es wieder Zeit ist, dass Ihr ja ankommen werdet. Es ist etwas Schreckliches geschehen. Die drei Prinzessinnen. Oh, es ist so unfassbar!» Sie bricht ab und schaut auf ihre Füsse.
«Was ist mit den Prinzessinnen, so rede doch!»
«Sie schlafen!»
«Sie schlafen?», hake ich verdutzt nach.
«Sie schlafen seit drei Tagen schon», stammelt die Küchenmagd, «und wachen einfach nicht auf, lassen sich nicht wecken.»
Das kann nicht sein, überlege ich verwirrt, die Prinzessinnen müssen doch trinken. Ohne Wasser müssten sie längst tot sein.
«Wir haben Boten losgeschickt, um die drei weisen Frauen kommen lassen, und waren vorhin in der Kapelle, um zu beten, wir alle. Aber ich muss in die Küche, damit wir die weisen Frauen gebührlich empfangen können. Euch auch. Auch Ihr müsst durchaus aufs Beste verköstigt werden.»
Und plötzlich strömen Knechte, Mägde, die ganze Hofstatt übers Gelände, eilen in die Ställe, eilen in die Küche, eilen ins Schloss. Doch ohne die sonst üblichen fröhlichen Scherze und Neckereien. Die Geschäftigkeit erinnert mich an alten Zeiten, und doch fehlt ihr das Wesentliche. Mir wird weh ums Herz.
Gemessenen Schrittes schreitet der alte Mann, der sonst die Wege wischt und sich um die Blumenrabatte und Rosen kümmert, auf mich zu. Schweigend reiche ich ihm meine Hände zum Gruss, die er lange festhält.
«Ihr kommt zur rechten Zeit, meine Liebe, vielleicht wird uns Eure Märchenerzählkunst helfen», ein leises Lächeln huscht über sein Gesicht.
«Hm, ja, vielleicht», stammle ich ein wenig überrumpelt, «Doch sagt, wann treffen die drei weisen Frauen ein?»
«Heute, oder morgen, hoffentlich.» Er blickt durch das Tor in die Ferne, sehnsüchtig, als ob er die Zeit beschleunigen könnte und die drei weisen Frauen gleich auftauchen müssten. Doch die Wege zum Schloss ist menschenleer. So stehen wir lange, die friedliche Landschaft betrachtend, wo sich kleine Hügel bis zum Horizont erstrecken, wo kleine Weiler zwischen Wiesen, Äckern und frühlingsgrünen Wäldern liegen.
Da, da kommt jemand! Ein Wanderer? Er kommt näher, ein hochgewachsener Mann, dessen leichtfüssiger Schritt mir bekannt vorkommt. Es ist mein Unbekannter, mein Nebelbegleiter, der jetzt durchs Tor schreitet.
«Mylord!», der alte Mann rennt auf den Unbekannten zu, umarmt ihn herzlich, «Ihr kommt wie gerufen.» Und an mich gewandt: «Ich diente Mylord, lange bevor ich hierherkam.»
«Wir kennen uns bereits», erklärt Mylord und an mich gewandt «Ihr werdet gebraucht, wie Ihr seht!»
Wie gebraucht? Ein Märchen erzählen? So tun, als ob nichts geschehen wäre? Während die Prinzessinnen komatös in ihren Zimmern schlafen?
«Ihr müsst Euch lediglich besinnen, wer Ihr seid, welche Rolle Ihr hier innehabt. Ihr müsst nur den Faden in die Hand nehmen und die Geschichte spinnen. Doch kommt, ich führe Euch zu Tisch.»
Fäden, denke ich grüblerisch. All die vielen Fäden, die hier Jahr für Jahr neu gesponnen wurden, nicht nur durch mich, durch alle hier. An chaotische und aufwühlende Situationen und wie sich stets alles zu einem guten Ende fanden. Aber jetzt zweifle ich daran.
Da gewahre ich mit Erstaunen, dass die Tische inzwischen wie zu einem Festmahl gedeckt sind. Magdalena kommt mir entgegen und führt mich zu meinem Platz unter dem Apfelbaum, wo ich stets sitze, wenn ich hier verweile. Die Mägde wuseln herum, schöpfen und bedienen. Es gibt Suppe und frische Brötchen, nicht die sonst übliche extravagante Vielfalt an erlesenen Köstlichkeiten. Der alte Mann setzt sich neben mich, Mylord nimmt mir gegenüber Platz. Es ist gespenstisch. Trotz aller Betriebsamkeit wird kaum ein Wort gewechselt. Selbst die Kinder halten sich zurück, die Kinder, deren arglose Fröhlichkeit uns doch stets beglückt hat.
«Wo sind die Königin und der König?», flüstere ich dem alten Mann zu.
«Sie wachen bei ihren schlafenden Töchtern», bekomme ich zur Antwort, «und die gute Berta kümmert sich persönlich um sie.»
Die gute, liebe, treue Berta, die Köchin, die viel mehr ist als eine Angestellte. Sie ist das Herz dieser Gemeinschaft. Mit diesen Gedanken beginne ich die Suppe zu löffeln.
Episode 2
Ich blicke auf. Aller Augen sind auf mich gerichtet. Nun denn. Ich lege das Besteck auf den Tisch und beginne den Faden zu spinnen.
«Es war einmal eine Königin und ein König. Die hatten drei allerliebste Prinzessinnen...»
In diesem Augenblick geht ein Raunen durch mein Publikum.
«Die Frauen!»
«Die weisen Frauen!»
«Sie sind endlich da!»
Die Rufe erschallen von allen Seiten. Und tatsächlich trippelten drei kleine, alte Weiblein durch das Tor. Aber wie die aussehen! Ich habe mir die drei weisen Frauen gänzlich anders vorgestellt. Hoch gewachsene Schönheiten, mit feenhafter Kleidung, blütenreiner Haut und einer göttlichen Ausstrahlung. Die Weiblein, die nun, ohne uns eines Blickes zu würdigen, dem Palast zustreben, sind alt, runzelig und hässlich, und in graue Gewänder gehüllt. Die eine hat eine dicke Unterlippe, die zweite einen unförmig dicken Daumen und die dritte hat einen verunstalteten rechten Fuss. Sie tragen kleine Behältnisse in den Händen.
«Diese hässlichen Weiber sollen den Prinzessinnen helfen?», raune ich dem alten Mann neben mir zu.
«Ihr habt sie doch gerufen! Dann werden sie helfen können.»
«Ich? Ich habe niemanden gerufen!» Ich bin beinahe ein bisschen empört.
«Das sind eure Fantasien, die Wirklichkeit wurden!»
Es ist Mucks Mäuschen still. Nur das Tippeln der Füsse der Weiblein ist zu hören, unterbrochen von kleinen “Wumms“, wenn der verunstaltete dicke Fuss des dritten Weibleins den Boden trifft.
Jetzt betreten sie das Schloss.
«Was tun sie dort?», fragt mich eine der Knechte.
Schon will ich etwas erwidern, halte aber inne und spinne den Faden weiter.
«Die kleinen Weiblein gehen schnurstracks ins Schlafzimmer der drei wunderhübschen Prinzessinnen, die dort nach wie vor tief schlafend in ihren Betten liegen.
Die Königin und der König schauen erstaunt auf, doch das Weiblein mit der dicken Lippe heisst sie still zu sein, indem sie den Finger an die Lippen legt und leise “pst“ macht. Jetzt treten die Weiblein je zu einer der Prinzessinnen, öffnen die mitgebrachten Behälter, tunken ihre Zeigfinger hinein und betupfen sachte die Lippen der Schlafenden.
Da kann sich der König nicht mehr zurückhalten: “Was tut ihr da? Was habt ihr meinen Töchtern auf die Lippen gestrichen? Werden sie dadurch wieder aufwachen? Ist es ein Heilmittel?“
Da spricht das Weiblein mit dem grossen, platten Fuss: “Ihr müsst jetzt tapfer sein, meine Königin und mein König. Eure Töchter wurden verzaubert. Es wird ihnen kein Haar gekrümmt. Wir bringen hier jedoch die Schlüssel zu ihrer Erlösung“, sagt’s und zieht eine steinerne Tafel, die sie unter ihrem Gewand verborgen hatte, hervor, “Hier sind drei Aufgaben aufgeschrieben. Wenn ein Jüngling diese Aufgaben löst, dann werden alle drei Prinzessinnen erlöst. Aber bis dahin müssen wir dieses Zimmer hier absperren und den Schlüssel in den Ententeich in Eurem Park werfen.“
Kaum ist das Weiblein mit seiner Rede fertig, fällt die Königin mit einem Seufzer ohnmächtig zu Boden.»
Dagmara, eine der drei Kammerjungfern schreit auf. «Kommt, wir müssen der Königin beistehen!» Und schon eilen die drei Kammerjungfern dienstfertig davon.
Just in diesem Moment erscheinen die drei Weiblein unter dem Türbogen des Palastes und trippeln Richtung Schlosspark davon.
«Was tun sie dort?», fragt mich Magdalena.
«Ja, was tun die drei Weiblein im Park», widerhallt die Frage von allen Seiten.
«Sie gelangen zum Ententeich», spintisiere ich weiter, «das Weiblein mit dem grossen Daumen zieht den goldenen Zimmerschlüssel aus der Jackentasche und wirft ihn mit einem grossen Schwung ins Wasser. Das andere Weiblein zieht einen Beutel hervor und beginnt den Inhalt im angrenzenden Wald zu zerstreuen. Es sind Perlen, tausend Perlen an der Zahl!»
«Warum denn?», fragt Benjamin, der jüngste der Prinzen.
«Das muss eine der Aufgaben sein», das ist Vinzenz, sein älterer Bruder.
«Eine Aufgabe?», fragt wiederum Benjamin.
«Ach du Dummerchen. Hast du nicht zugehört? Unsere Schwestern müssen erlöst werden. Ein Jüngling wird kommen und die drei Aufgaben lösen.»
«Welche Aufgaben denn?»
«Die Perlen auflesen…»
«Alle Perlen?»
«Ja, alle!»
«Das ist ganz unmöglich!»
«Es muss möglich sein!»
«Und die zweite Aufgabe?»
«Denn Schlüssel aus dem Ententeich holen!»
«Das ist noch viel unmöglicher!»
«Der Jüngling müsste alles Wasser wegschöpfen», überlegt Lucas, der älteste der Prinzen, laut.
«Sag ich’s doch. Unsere Schwestern werden nie erwachen, niemals!», schluchzt Benjamin, «aber was ist die dritte Aufgabe?»
Jetzt schauen alle drei mich an. Nicht nur sie, die Augen des ganzen Hofstaats sind auf mich gerichtet.
«Es muss etwas mit den Flüssigkeiten zu tun haben, welche die Weiblein unseren Schwestern auf ihre Lippen gestrichen haben», mutmasst nun Vinzenz.
«Genau so ist es», mische ich mich wieder ein, «die Weiblein haben euren Schwestern verschieden Flüssigkeiten auf die Lippen gestrichen.»
«Was für Flüssigkeiten?», das ist wieder Benjamin.
«Holunderblütensirup, Apfelsaft und Honig.», erwidere ich.
«Das soll eine Aufgabe sein?», unterbricht mich Lucas.
«Lass die Märchenerzählerin doch ausreden!», schimpft Benjamin ungeduldig.
«Wenn der Jüngling, der eure Schwestern erlösen möchte, die Perlen aufgelesen und den Schlüssel aus dem Ententeich gefischt hat, dann kann er die Türe zum Zimmer eurer Schwestern aufschliessen und eintreten. Danach muss er herausfinden, welche von den dreien Honig auf den Lippen hat.»
Ein Seufzen geht durch die Anwesenden.
«Das ist ganz und gar unmöglich!», klagt Benjamin und fängt an zu weinen. Eine der Mägde nimmt ihn in die Arme und tröstet ihn.
«Und wenn nun ein Jüngling kommt, die Aufgaben auf der steinernen Tafel liest, die Perlen zu suchen beginnt, aber nicht alle findet, was geschieht dann?»
«Dann», ich zittere, möchte nicht weitersprechen, zu schrecklich ist allein die Vorstellung, was dann geschieht, «dann wird der Jüngling zu Stein.»
Episode 3
Kaum habe ich diesen furchtbaren Satz gesagt, dass nämlich der Jüngling, der die Prinzessinnen erlösen möchte und dabei scheitert, zu Stein wird, geht ein Tumult los. Ich höre Klagen, Jammern, Schluchzen, Aufseufzen und Schimpfen. Einige können nicht mehr an sich halten, stehen auf, schreiten davon, zum Palast, in den Schlossgarten, zu den Wäldchen des Schlosses, oder verlassen gar den Hof, treten durch das Tor hinaus auf den Weg, der vom Schloss wegführt, oder zum Schloss herführt, je nachdem ob man kommt oder geht.
Einige der Küchenmägde bleiben besonnen. Sie räumen das Geschirr ab, reinigen die Tische und bringen neues Geschirr, dazu Krüge mit Kaffee und heisser Schokolade, Platten mit verschiedensten Kuchen und Keksen. Auch zwei, drei Flaschen edlen, alten Armagnacs stehen jetzt auf den Tischen, bereit, getrunken zu werden, dazu kleine, geschwungene Gläser. Letzteres ist bestimmt die Idee Bertas und wird das eine oder andere Gemüt besänftigen.
Wie magisch angezogen, strömen all die Mägde, Knechte und Zofen, auch die Prinzen wieder zu Tisch.
Jetzt erscheint auch die Königin, mit aschfahlem Gesicht, von der treuen Berta gestützt, und nähert sich langsam der Tischgesellschaft.
Der König, der seiner Gattin folgt, schreitet königlich, doch sein Gesicht scheint vor verhaltenem Schmerz wie versteinert.
Seufzend setzt sich die Königin auf ihren thronähnlichen Stuhl. Und mit einem Klagelaut: «Jetzt habe ich all meine vier Töchter verloren!»
«Vier Töchter? Mit Verlaub, Hoheit, das ist Unsinn! Ihr habt drei Töchter. Drei und nicht vier. Und drei wohlgeratene Söhne, muss ich noch erwähnen. Die sitzen hier frisch und munter am Tisch. Mmh, vielleicht nicht ganz so munter wie üblich», das ist Magdalena.
Schon habe ich Angst, die Königin könnte zornig werden, dass ihr widersprochen wurde. Doch dem ist nicht so. Im Gegenteil.
«Ich hatte eine Tochter, mein erstes Kind, als ich erst achtzehn Jahre jung war, lange, bevor du hier in den Dienst genommen wurdest», erklärt die Königin und bricht mit einem weiteren Seufzer ab.
«Ihr müsst nicht über Sophia sprechen, das tut Euch nicht gut, meine Liebe, das bricht nur alten Kummer auf», versucht Berta ihre Königin zurückzuhalten.
«Ihr hattet eine vierte Tochter?», wagt Dagmara, eine der Kammerjungfern zu fragen.
«Sie war meine erste Tochter, nicht die vierte.»
«Was ist geschehen?», erkundigt sich Irene, die zweite der Kammerzofen.
«Ach, sie war so ein süsses, kleines Mädchen. Ich habe sie überaus geliebt. Ja, ich war ganz närrisch. Ich habe sie stundenlang auf dem Arm getragen, bin mit ihr durch den Schlossgarten herumspaziert, habe ihr die Schmetterlinge gezeigt, die Rosenblüten, die Enten im Teich, auch die Fische, die Tauben auf den Zinnen. Sie hat gejauchzt und frohlockt.», die Königin hält inne, ein Lächeln zaubert sich in ihr Gesicht, «Sophia war ein zufriedenes, glückliches Kind. Aber einmal, es war ein windiger Tag, ich konnte mit ihr nicht hinaus in den Schlossgarten, da hat sie geweint, aber nicht, weil sie traurig war oder ihr etwas fehlte. Sie war zornig und ablehnend. Ich konnte sie nicht beruhigen. Ich habe ihr ein Liedchen gesungen, hab mit ihr im Kreis herumgetanzt, was sie sonst zum Lachen brachte, aber an diesem Tag – nichts half. Ich schaute zum Fenster hinaus. Raben flogen um die Zinnen, spielten mit dem Wind, krächzten laut. Ich öffnete das Fenster: “Schau mal die Krähen“, versuchte ich Sophia abzulenken. Aber sie beruhigte sich nicht. “Ach, wärst du nur ein Rabe und flögest fort, dann hätte ich meine Ruhe!“, entfuhr es mir. Und kaum hatte ich das gesagt, da verwandelte sich Sophia in eine Krähe und flog durch das Fenster hinaus.»
Die Königin verstummt. Alle, die ihr gelauscht hatten, bleiben still, wagen kaum zu atmen.
«Liebe Mama, ist Sophia nie mehr zu dir zurückgekehrt?»
«Nein, mein lieber Benjamin, nie mehr»
«Du weisst gar nicht, wo sie jetzt lebt?», das ist Lucas.
«Nein, ich weiss gar nichts.»
«Arme Mama!», ruft Benjamin, steht auf und umarmt seine Mutter, deren Wangen tränennass sind.
«Arme Sophia!», ruft Vinzenz mit zorniger Stimme, «Arme Sophia, unsere Mutter hat dich verwünscht!»
Betroffenes Schweigen allenthalben.
«Wurden unserer drei Schwestern deshalb verwünscht?», fragt Benjamin ängstlich.
Bestürztes Schweigen allenthalben.
Da steht Mylord, der bisher schweigend zugehört hat, auf und mit fester Stimme sagt er in die Runde: «Ihr Lieben, Eure Mutter, die Königin hat ihre Verwünschung mehrfach widerrufen. Jedoch ohne Erfolg. Aber Sophia geht es gut!»
Fassungsloses Schweigen allenthalben.
Dann aber bricht ein Tumult los. Von allen Seiten wird Mylord bestürmt, tausend Fragen peitschen auf ihn ein. Er hebt die Hände, gleich einem Dirigenten, welcher ein Orchester führt.
Dann sieht er mich an. Eindringlich. «Mylady, ich bitte Euch.»
Das kenne ich. Ich soll den Ball, den er mir zugespielt hat, fangen und mit erzählen beginnen. Ich bin als Märchenerzählerin hier, Jahr für Jahr. Oft übernehmen die Anwesenden selbst eine Rolle darin. Manchmal gibt es Streit, wer wen spielen darf. Dieses Jahr scheint alles ein wenig anders zu sein.
In aller Ruhe trinke ich meinen Kaffee aus und – also ob er meine Gedanken lesen könnte – schenkt mir der alte Mann neben mir ein Glas Armagnac ein.
«Nun, Sophia, in der Gestalt eines Raben, flog zu einem finsteren, undurchdringlichen Wald, wo sie lange Zeit in Ruhe lebte.»
Episode 4
«Igitt, Sophia hat Mäuse gefressen», unterbricht mich Benjamin.
«Oder Aas!», wirft Vinzenz mit zorniger Stimme ein.
«Was ist Aas?», fragt Benjamin.
«Das sind tote Tiere, du Dummerchen!», das ist Lucas.
«Igitt! Lieber würde ich verhungern, als tote Tiere zu essen!», das ist wieder Benjamin.
«Oh, da kenn ich aber einen, der liebt Kartoffelstock mit Fleischbällchen mit Sauce über alle Massen!», wirft Vinzenz ein, nun nicht mehr ganz so zornig.
«Fleischbällchen sind tote Tiere?»
«Ein Rabe frisst auch Beeren und Nüsse, Eier von Vögeln...», versucht Magdalena die Diskussion zu beenden.
«Können wir Sophia nicht suchen gehen?», das ist wieder Benjamin.
«Oh, ja, wir werden Sophia suchen und finden. Dann sind wir die Helden!», das ist Lucas.
«Haltet ein, meine Prinzen!», ruft die Königin, «Was denkt ihr denn nur! Wir haben damals sofort Suchtrupps losgeschickt, um Sophia zu finden, Boten sind in alle Dörfer geritten und haben nach Sophia gefragt. Ergebnislos.»
«Und die weisen Frauen? Können die unsere Sophia nicht finden?», fragt zögerlich Vinzenz.
«Die haben wir auch konsultiert», erklärt die Königin ermattet, «Doch sie sagten, die Prinzessin sei jetzt weit, weit weg, viel zu weit weg, als dass ihr ein Zauber helfen könnte. Sie haben den Namen des Schlosses genannt, wo sie weilt. Ich schrieb den Namen auf ein Zettelchen und tat das Zettelchen in eine kleine, goldene Dose, und tat diese in die Schublade meines Schreitischs. Allein, die Dose ist verschwunden.»
«Habt ihr keinen Boten geschickt, um die Stätte, welche die weisen Frauen genannt haben, zu finden?», das ist jetzt Lucas.
«Wir haben Boten geschickt, doch niemand hatte je von diesem Ort je gehört», mischt sich nun endlich klärend der König ein.
«Der Ort war kein Ort, sondern ein Schloss!», wirft die gute Berta ein.
«Oh, ja ein Schloss, ein goldenes Schloss!», die Königin.
«Auf einem Berg, ein goldenes Schloss auf einem Berg», das war Berta.
«Stromberg!», ruft die Königin, «Das Schloss, wo Sophia weilen soll, ist das goldene Schloss von Stromberg!»
«Was macht ein Rabe in einem Schloss?», das ist Lucas.
«Vielleicht ist sie gar kein Rabe mehr? Vielleicht ist sie eine wunderschöne Prinzessin?», das ist jetzt Vinzenz.
«Wir müssen sie finden!», ruft tatenlustig Benjamin.
«Wir werden sie finden!», ruft abenteuerlustig Lucas.
«Wir brauchen eine Kutsche mit den stärksten Pferden und ganz viel Proviant!», erwägt Vinzenz.
Ich sitze stumm daneben. Höre den wilden Spekulationen zu. Nehme mein Glas, mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit, hebe es an meine Lippen, und lasse einen Schluck durch meine Kehle rinnen.
Es läuft aus dem Ruder, das Märchen, überlege ich, die schlafenden Prinzessinnen hier, eingeschlossen in ihrem Zimmer, und die jüngste Prinzessin dort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Im Nirgendwo. Und die Prinzen, die sich nun wohl tatenmutig auf den Weg machen werden. Denn sie werden sich nicht zügeln lassen. Ich sehe das Glitzern in den Augen. Da gleichen sie ihrem Vater. Wenn sich der König etwas in den Kopf gesetzt hat, kann ihn niemand bremsen, dann lässt er nicht locker.
Plötzlich greift sich Vinzenz an den Kopf: «Wir Tölpel, wir können gar nicht von hier weg, sonst lassen wir ja unsere schlafenden Schwestern hier im Stich!»
Da tritt einer der Stallknechte, ein schmächtiger Kerl, hervor: «Ich melde mich freiwillig, ich werde die Perlen suchen und nach dem Schlüssel tauchen und die Prinzessinnen erlösen.»
«Noch mehr Freiwillige hier?», ertönt der laute Bass des Königs.
«Hier! Ich!», es ist einer der Jäger.
«Ich auch!», meldet sich der Schatzmeister.
«Ich!», ein Zimmermann.
«Ich!», der Gehilfe des Schmieds.
«Ich!» ein weiterer Stallknecht.
«Ich auch!», einer der Fischer.
«Ich zuerst!», es ist Dagmara, die Kammerzofe der Königin.
«Wir werden auslosen, wer zuerst beginnt», entscheidet der König, «aber den Schatzmeister können wir nicht entbehren. Und», mit einer leichten Verbeugung zu Dagmara, «dein Angebot und Wagemut in Ehren, doch auf der steinernen Tafel wird ausdrücklich gesagt, es müsse ein Jüngling sein.»
«Meine Prinzen gehen nirgendwohin!», ruft da die Königin dazwischen, die sich von ihrem Stuhl erhoben hat, «Ich will sie nicht auch noch verlieren!»
«Und ich verbiete meinem Sohn, die Perlen zu suchen. Seine beiden älteren Brüder sind seit langem verschwunden. Ich will meinen Jüngsten nicht auch verlieren!», ruft der Vater des schmächtigen Stallknechts.
Erneuter Tumult. Ein Hin und Her. Bald melden sich noch mehr Wagemutige, welche die drei Aufgaben lösen wollen, bald melden sich jene, die Bedenken haben. Ich nehme mein Glas und entferne mich, trete durchs Tor. Nur hinaus.
Die Abendsonne taucht die liebliche Landschaft in goldenes Licht. Ich setze mich an den Wegrand, lausche den Geräuschen der anbrechenden Nacht, dem Gezirpe der Grillen, dem Ruf eines Waldkauzes, schaue den ersten Fledermäusen zu, die in der anbrechenden Dämmerung mit jähen Wendungen Insekten jagen.
Ich höre Schritte, schaue aber nicht auf.
«Hörst du mir zu? Du musst dich nicht als Helden aufspielen, Junge!», das muss der Vater des schmächtigen Stallknechts sein.
«Aber Vater, einer muss es doch tun!», die Stimme des Stallknechts.
«Weshalb du?»,
«Nach mir haben sich noch andere gemeldet. Kannst du wenigsten das anerkennen? Dass ich als erster den Mut hatte? Dass ich es leid bin, der Dummling zu sein?»
«Ich habe Angst, dich auch zu verlieren», der Vater scheint verzweifelt.
«Das verstehe ich sehr wohl. Aber irgend eines Tages bin ich so oder so weg, gründe meine eigene Familie. Ich bin nicht mehr dein kleiner Junge, Vater! Ich werde an der Verlosung teilnehmen!»
«Nein!»
«Warum machst du mir es so schwer Vater? Nun gut, ich werde nicht an der Verlosung teilnehmen. Ich werde meine Brüder suchen und sie nach Hause bringen.»
«Du kennst dich doch in der Welt gar nicht aus.»
«Siehst du, du traust mir nichts zu. Doch mich hält nichts mehr zurück. Heute, spätestens aber morgen früh, wenn die Sonne aufgeht, werde ich abreisen. Ich werde meine Brüder finden und sie zurückbringen. Adieu, mein lieber Vater.»
Schweigen. Die Schritte entfernen sich.
Episode 5
Es ist früher Morgen, liebe Kathrin. Ich habe tief und fest geschlafen, doch jetzt bin ich bereits draussen, möchte einen Spaziergang machen, bevor es Frühstück gibt. Frühstück und Fragen und Leid. Die Küchenmägde sind längst aufgestanden und rege tätig. Die Luft ist erfüllt vom Geruch frisch gebackenen Brotes. Noch einen Moment möchte ich allein sein, die Ruhe geniessen.
Schon trete ich hinaus vors Tor. Ein schmaler Pfad führt entlang der Schlossmauer, an dessen Ränder unzählige wilde Stauden blühen, die von Schmetterlingen und allerlei Bienen und Käfern umflattert und umflogen werden.
Heute, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang, soll der Jäger, auf den das Los gefallen ist, die Perlen suchen. Wenn nicht ein Wunder geschieht, wird er zu Stein. Ich mag gar nicht dran denken.
Da erblicke ich den schmächtigen Stallknecht, der hoch zu Ross durchs Tor reitet. Oho, er reitet Vinzenz’ edles Pferd, eine schwarze Stute. Da muss irgendein Handel gemacht worden sein.
Ich schaue ihm nach. Wie gern würde ich bei seinem Ritt dabei sein, Abenteuer erleben, nicht einfach erzählend Abenteuer ausdenken. Den frischen Wind spüren, wenn ich im Galopp reitend über die Felder presche. Was natürlich blanker Unsinn ist. Ich kann gar nicht reiten.
Jetzt zieht der nicht mehr so schmächtig wirkende Stallknecht die Zügel leicht an, und bringt mit einem lauten ‘Brrr’ das Pferd zum Stehen, wirft mir einen Blick zu, macht rechtsumkehrt und reitet ins Schloss zurück. Ob er es sich anders überlegt hat? Doch kurz darauf kehrt er zurück, zu Fuss. Er führt ein zweites Pferd mit sich und kommt geradewegs auf mich zu.
«Hier, dieses Ross ist für eine Anfängerin wie Euch geeignet.»
«Ich, ich wollte doch nicht, ich kann Euch doch nicht...», stammle ich, «Woher wusstet Ihr...?»
«Es ist ganz leicht. Morena zu reiten, meine ich. Ihr braucht nur aufzusteigen, fest im Sattel zu sitzen und die Zügel zu ergreifen. Morena ist eine sehr feinfühlige Stute, Ihr könnt ihr vertrauen.»
Ich zögere. Soll ich einfach der Geschichte entfliehen und fortreiten? Obwohl ich nicht reiten kann? Aber hier, jetzt, in diesem zauberhaften Land, schwinden meine Bedenken wie Schnee in der Sonne.
«Kommt, ich helfe Euch», ermuntert mich der Stallknecht, der jetzt in die Hocke geht und seine Hände so verschränkt, dass sie eine Stiege formen, «Ihr könnte Euch am Sattel halten, den linken Fuss auf den Steigbügel hier setzen und dann den rechten auf meine Hände und hinaufsteigen!»
Ich nehme meinen ganzen Mut zusammen, ergreife den Sattelknauf, setze meinen linken Fuss auf den Steigbügel, den rechten auf die Hände des Stallknechts, der mich irgendwie hinauf hievt und – schon sitze ich im Sattel.
«Schön locker bleiben, schön locker sitzen!», ermahnt mich der Kerl, «und jetzt die Zügel ebenfalls ganz locker halten. Gut so!» Er schnalzt mit der Zunge und das Pferd, mein Pferd, auf dem ich nun sitze, setzt sich in Bewegung.
«Wir gehen im Schritt, bis Ihr Euch ganz sicher fühlt.» Und schon sitzt er ebenfalls auf seiner Stute und wir trotten langsam den Weg entlang, der sachte abwärtsführt, dass Schloss liegt ja auf dem höchsten Hügel weitum.
«Was habt Ihr eigentlich vor? Wohin reiten wir?», erkundige ich mich.
«Na, zuerst den Höfen, Weilern und Dörfern entlang, wir erkundigen uns bei den Bauern und in den Kneipen, ja und dann schauen wir weiter.»
Wie er’s gesagt, so getan.
Es ist eine fröhliche Reise, die wir da unternommen haben. Wir kommen an unzähligen Höfen vorbei, wo Hühner, Gänse, Enten, Ziegen, Schafe und Kühe meist ohne irgendeine Umzäunung weiden, manchmal passen Kinder auf sie auf.
Ja, diese vielen fröhlichen, glücklichen Kinder. Ich habe selten so viele Kinder draussen spielen sehen. Kinder jeglichen Alters. Kleine Knirpse, welche den Hühnern hinterherrennen. Hüpfen spielende Kinder und Jungen, die auf Bäume klettern, so hoch, dass es einem beim Zusehen den Atem nimmt.
Wo immer wir jemandem begegnen, fragt der Kerl, der im Übrigen Moritz heisst, ob seine Brüder gesehen worden seien. Die Menschen sind gesprächig hier. Laden uns zu einem Getränk ein, oder bieten uns Brot oder Kuchen an, fragen Moritz aus und er muss erzählen und erzählen.
«Ach, vom Schloss kommt Ihr? Das habe ich mir noch halbwegs gedacht, denn ein so edles Pferd, wie Ihr da reitet, wird hier kaum gesehen», erklärt uns der Wirt vom “Weissen Rössle“.
Wir sitzen draussen auf einer Bank, vor uns eine einfache Mahlzeit, wie es auf dem Lande hier üblich ist. Eine Gemüsesuppe, dazu frisches Brot mit Butter und Käse, ein Krug Wasser und ein Krug leichten Weins, der darf offenbar niemals fehlen.
«Eure Brüder habe ich nicht gesehen, aber manchmal haben wir hier so viel Betrieb, da kann es auch sein, dass sie doch mal hier gespeist haben», fährt der Wirt fort, der uns gegenüber Platz genommen hat, «Aber etwas anderes fällt mir ein. Einmal war einer hier, ein hochgewachsener Kerl, der hat nach dem Schloss Stromberg gefragt. Aber keiner, der damals hier gevespert hat, hatte je von einem Schloss Stromberg gehört. Auch der alte Linus nicht. Ah, das könnt Ihr ja nicht wissen. Der Linus war lange ein Bote des Königs, bis er sich hierher zurückgezogen hat. Der kennt jeden Winkel des Reiches. Wir haben uns alle gewundert, dass Linus von Stromberg noch nie was gehört hat, das will was heissen! Nur deshalb ist mir die ganze Sache in Erinnerung geblieben.»
Ich sitze da, wie vom Donner gerührt. Da suchen wir Moritz’ Brüder und finden einen Anhaltspunkt zu Sophia.
«Erinnert Ihr Euch vielleicht, wohin sich der Fremde dann hingewendet hat?», frage ich innerlich bebend.
«Na ja, nach Norden natürlich.»
«Weshalb Norden?»
«Ja, der Kerl hat gesagt, er käme aus den Wäldern im Süden, jetzt müsse er die Wälder des Nordens durchsuchen. Deshalb. Aber sagt, habt Ihr denn keinen Hunger oder schmeckt’s Euch vielleicht nicht?»
«Oh, nein, die Gemüsesuppe ist herrlich. Ihr müsst wissen, die jüngste Königstocher ist seit Jahren verschwunden und unser einziger Anhaltspunkt ist, dass sie im Schloss Stromberg sein soll.», erklärt Moritz.
Und er erzählt alles, was sich im Schloss – tags zuvor erst? – zugetragen hat. Der Wirt hört interessiert zu, stellt ab und zu eine Frage, tischt einen leckeren Kirschkuchen auf, bringt mehr Wein, stellt noch mehr Fragen, hört noch interessierter zu. Andere Gäste kommen hinzu, werden von der Tochter des Wirtes bedient, stellen ebenfalls Fragen, hören noch interessierter zu, und bevor wir uns versehen, bricht die Dämmerung herein. Der Wirt bringt uns Kaffee und Schnaps und lädt uns zum Übernachten ein. Denn Wirte bewirten nicht nur, sie beherbergen auch.
Episode 6
Ein neuer Tag! Ich stehe draussen vor der Kneipe. Ein zarter Nebel schwebt über den Niederungen. Vogelgezwitscher ringsum in den Hecken, Büschen, Bäumen. Mauersegler gleiten pfeilschnell durch die Lüfte. Milane ziehen ihre Kreise.
Es ist spät geworden, gestern Abend. Der alte Linus wurde geholt, und mit ihm kam das halbe Dorf. Er wurde über die Wälder im Norden ausgefragt. Riesen sollen dort wohnen. Mehr wusste er nicht. Aber wenn einer nach Stromberg frage und niemand je von diesem Schloss gehört habe, so führte Linus aus, dann müsse der Fragende diesen Sachverhalt zuvor erfahren haben. Im Süden folglich. Ob es dort gefährlich sei, im Süden, wurde er gefragt. “Gefährlich?“, Linus hat sich am Kopf gekratzt, tüchtig in sein grosses Taschentuch geschnäuzt und endlich geantwortet: “Dort lebte lange Zeit ein Rabe, der sprechen konnte.“ Und wieder war ich wie vom Donner gerührt. “Ihr sagtet ‘lebte’, wagte ich nachzufragen, “heisst das, der Rabe lebt nicht mehr?“ Wieder fing Linus an sich umständlich zu schnäuzen. “Das will nichts heissen, der Rabe kann auch irgendwohin geflogen sein!“ Und nach einer Weile: “Im Süden wohnt eine wunderliche, alte Frau im Wald. Es wird gemunkelt, dass sie schon einige Wanderer verzaubert habe“, und nach erneutem Schnäuzen, “Oder Schlimmeres.“
Da tritt Moritz aus unserer Herberge und unterbricht mein Nachsinnen.
«Wohin des Weges, Moritz?»
«Ihr meint, nach Süden oder Norden?»
«Genau!»
«Zuerst einmal: Nirgendwohin. Ich brauche ein kräftiges Frühstück und viel Wasser!»
«Wasser?»
«Na, weil ich gestern Abend wohl ein paar Schnäpse zu viel getrunken habe!»
Sagt’s, geht zum Brunnen, der friedlich plätschert und trinkt direkt aus dem Brunnerohr. Dann kehr er zu mir zurück, bleibt neben mir stehen. Wir blicken in die Ferne, über die zauberhafte Landschaft, bis zum Horizont, wo wie der Mond scheinbar zwischen lieblichen Wölkchen schwebt. «Aber mal ernsthaft: Nach Süden oder Norden?»
«Keine Ahnung. Wir müssen wohl das Los entscheiden lassen. Oder eine Münze werfen!»
«Ein Los, mein Gott, ein Los! Das Los fiel auf den Jäger. Was wohl geschehen ist?»
«Das fragt Ihr mich? Gnädigste, Ihr seid die Märchenerzählerin hier.»
Das schon, aber keine Hellseherin, möchte ich einwenden, aber da drängen sich Bilder vor mein geistiges Auge.
Wir setzen uns, derweil der Wirt und seine Tochter uns eilig bedienen, ein Körbchen mit Rosinen- und Laugenbrötchen auf den Tisch stellen, dazu Butter, Marmelade, Honig, einen Krug Kaffee und ein Kännchen Sahne. Mir läuft das Wasser im Munde zusammen.
«Der Jäger ist ein Stein», erkläre ich kauend, «Er hat zweihundertsieben Perlen gefunden, dann ging die Sonne unter.»
«Schrecklich! Aber vorauszusehen!»
«Ach, wenn Euer Vater nicht wäre, dann wärt Ihr jetzt der Stein», erwidere ich.
«Ihr habt uns gehört?»
«Ja, ich sass draussen und habe Euren Zwist gehört. Ihr habt ja nicht gerade geflüstert oder gemurmelt.»
«Auf wen ist das Los danach gefallen?», fragt Moritz unverhohlen neugierig.
«Auf den Küchenjungen!»
«Oh nein! Der hat die besten gebrannten Cremen gemacht! Und die besten Schokoladenschäume!»
«Ihr meint die Crèmes brûlées? Und Mousses au Chocolat?»
«Genau!»
«Denkt Ihr eigentlich immer zuerst an Euren Bauch?»
«Nein, nein. Es ist tragisch. Der Küchenjunge ist flink. Er muss hoffentlich wohl nur noch die siebenhundertdreiundneunzig noch nicht gefundenen Perlen finden, vielleicht schafft er das ja. Aber der Kerl kann nicht schwimmen. Ich auch nicht, übrigens.»
«Ihr könnt nicht schwimmen und habt Euch freiwillig als erster gemeldet, die Aufgaben zu lösen? Das verstehe ich nun gar nicht.»
«Ach, irgendwie wird’s schon gelingen!»
«Vielleicht liegt's an Eurer Jugend. Es scheint, Ihr seid übermütig und abenteuerlustig wie Eure älteren Brüder. Nicht unbedingt zu Eurem Besten!»
Inzwischen haben wir die Brötchen ratzeputz weggeputzt und den Kaffee ausgetrunken.
«Wie geht es Eurem Kater?»
«Kater?», Moritz schaut mich fragend an und lacht dann auf, «Der Kater ist weg. Ich fühle mich frisch wie die Morgenröte.»
Jetzt muss ich lachen: «Ihr meint wohl, frisch wie der junge Morgen! Erröten müsst Ihr nicht deswegen.»
«Von mir aus: frisch und munter. Zufrieden? Müsst Ihr mich eigentlich immer tadeln?»
«Belehren meint Ihr?»
«Seht Ihr, Ihr tut es bereits wieder! Reiten wir jetzt los?»
«Halt, wir müssen doch die Zeche bezahlen und ich habe kein Geld dabei!»
Da winkt der Wirt ab: «Ihr seid mir nichts schuldig. So viele Leute wie gestern Abend habe ich selten in meiner Wirtsstube gehabt. Als man Linus holte, hat man gleich das ganze Dorf informiert und alle sind sie hergekommen. Alle. Ich habe Wein und Schnaps verkauft, mehr als in einem ganzen Monat. Geht in Frieden und kommt beim Rückweg wieder hier vorbei! Ich bitte Euch darum.»
So trotten wir auf unseren Rossen dahin. Nach Süden, wie ich am Sonnenstand erkenne.
“Eigentlich sind wir viel zu langsam unterwegs“, überlege ich, da schnalzt Moritz mit der Zunge und schon wechseln unsere Rosse in den Trab. Ich bin so überrascht, dass ich beinahe das Gleichgewicht verliere und vom Pferd purzle.
«Ihr könnt Euch notfalls am Sattelknopf festhalten. Aber besser ist es, wenn Ihr schön gerade, aber locker sitzen bleibt und die Füsse fest in die Steigbügel stellt.»
Der kann gut reden, denke ich, der reitet bestimmt seit Kindesbeinen.
«Wir werden Wochen brauchen, bis wir den Wald im Süden erreicht haben!», ruft Moritz unwirsch aus, dreht sich zu mir um, «Könnt Ihr nicht ein wenig Euren Zauberstab rühren und uns in Windeseile zu dieser alten Frau bringen, von welcher der alte Linus erzählt hat?»
«Ich bin keine Zauberin, bloss eine Märchenerzählerin», erwidere ich ebenso missvergnügt, denn mir tun die Beine weh, nicht nur die Beine, auch mein Rücken und mein Allerwertester. Ich brauchte eine Pause, müsste mir die Beine vertreten. Vermutlich sitze ich nicht so locker, wie Moritz es wünscht.
«Das ist dasselbe», erwidert Moritz, «Zauberin oder Märchenerzählerin, meine ich.»
Schon will ich widersprechen, schon will ich mich nochmals erklären. Da gelangen wir unvermittelt an eine Kreuzung. Mit einem lauten «Ho», bringt Moritz unsere Pferde zum Stehen.
«Hoppla! Das ging ja blitzartig! Ihr müsst mich mal unterweisen, wir Ihr das fertigbringt!»
Ich fühle mich überrumpelt, habe keine Ahnung, wovon der gute Moritz spricht.
«Ihr wisst nicht, wovon ich spreche? Seht diese Kreuzung, wo wir jetzt angehalten haben. Die gab es kurz zuvor noch nicht. Und dieser Wegweiser hier genau so wenig. Mal schauen was da drauf steht. Richtung Osten geht es nach Himmelsbühl, nach Westen nach Kühwalden, nach Norden nach Rieshausen und nach Süden nach, nein nicht nach. Seht, da steht ja ein ganzer Satz!»
Ich trete näher und lese den Satz laut vor: «Reisende, wenn Ihr zur alten, wunderlichen Frau möchtet, dann geht nicht in diese Richtung. Sie haust zwar nicht weit von hier, aber sie will Euch übel. Falls Ihr trotzdem diese Richtung einschlägt, dann dürft Ihr von ihr weder Speis noch Trank zu Euch nehmen. Sonst fällt Ihr in einen tiefen Schlaf und wacht vielleicht niemals mehr auf.»
Episode 7
Ich bin immer noch perplex. Starre die Buchstaben an, die vor meinen Augen zu tanzen beginnen. Wir sollen diese Richtung nicht einschlagen, nach Süden folglich, weil die Alte uns vergiften will.
«Wie macht Ihr das?», das ist Moritz.
«Ich, ich habe nichts gemacht!» Ich stammle. Mir dreht sich alles vor Augen.
«Doch, Ihr habt gezaubert, oder eure Märchenkünste walten lassen, da bin ich mir sicher. Ich habe eben erst noch nach einer Abzweigung Ausschau gehalten, aber der Weg führte schnurgerade zwischen Äckern und Wiesen hindurch. Und seht nur: Hier sind Weinfelder. Keine Äcker, keine Wiesen weit und breit, alles Rebstöcke, tausende! Dazwischen kleine Gebäude, darin man die Werkzeuge für den Weinbau aufbewahrt. Und da vorne: Seht Ihr den Wald? Kein abwechslungsreicher Laubwald, mit zarten, hellgrünen Blättchen, wie im Frühling vorherrschend, nein ein dunkler Tannenwald, wie es scheint!»
Ich bin nach wie vor fassungslos. Es ist tatsächlich so, wie Moritz festgestellt hat: Die Gegend hier sieht vollkommen anders aus als eben erst. Auch der Wald war vorhin nicht da.
In diesem wundersamen Lande stehen an jeder namhaften Kreuzung ein Baum und eine Bank. Manchmal auch zwei Bäume und zwei Bänke. Was praktisch ist, wenn man zu Fuss oder hoch zu Ross unterwegs ist und rasten möchte. Hier, an dieser Kreuzung, wurde einst, vor hundert Jahren oder noch früher, eine Linde gepflanzt, die jetzt mächtig gross ist und ihr Geäst über uns hält, als würde sie uns vor aller Unbill schützen wollen.
«Wir wollen rasten! Und uns dabei beraten. Seid Ihr einverstanden? Oder wollt Ihr vielleicht schnurstracks in den Wald reiten?»
«Warum unterstellt Ihr mir, dass ich in den Wald möchte?», frage ich Moritz konsterniert, «Nein, ich brauche eine Pause. Ich bin zu aufgewühlt, ich muss erst zur Ruhe kommen.»
Und während ich von meiner lieben Stute hinuntergleite, redet Moritz unverdrossen weiter.
«Ich verstehe nicht, warum Ihr so überrascht seid. Oder tut Ihr nur so? Ich müsst es doch gewohnt sein, dass sich die Dinge um Euch herum abrupt ändern?»
Ich mag nicht antworten, öffne die Satteltasche und nehme Wurst und Brot heraus, setze mich auf die Bank, breche ein Stück des Brotes ab und beginne schweigend zu kauen. Danach beisse ich in die Wurst. Sie ist kräftig gewürzt, viel Pfeffer, viel Knoblauch, ein wenig Kümmel und Muskatnuss schmecke ich heraus. Ein Hauch Ingwer, vielleicht ein Hauch Zitrone?
«Geht es Euch nun besser?», Moritz streckt mir ein Becher mit frischem Quellwasser zu.
Ich nicke. Ja, es geht mir besser. Deutlich besser.
«Scheint es Euch nicht eigenartig, dass die Alte ein Gift mischt in Speis und Trank, das einem schlafen lässt? Ich muss unentwegt an die Prinzessinnen denken. Ist es ein Zufall, oder hat diese Alte vielleicht ihre Finger mit im Spiel?»
Moritz hat recht. Dieses seltsame Zusammentreffen finde ich ebenfalls merkwürdig.
«Weshalb haben wir eigentlich den Weg nach Süden eingeschlagen und nicht nach Norden, wo vielleicht das Schloss Stromberg liegt?», gebe ich zu bedenken.
«Wir gehen dem Hinweis nach dem Raben nach, erinnert Ihr Euch?»
Ich seufze: «Dann müssen wir nach Süden und uns in Acht nehmen. Falls wir tatsächlich zum Haus der Alten gelangen, dürfen wir auf keinen Fall Speis und Trank annehmen.»
«Ihr müsst mich nicht belehren. Das weiss ich wohl!»
Wir steigen wieder auf unsere Pferde und reiten los. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als wir den Wald erreichen.
Es ist ein dichter, dunkler Tannenwald. Keine Blumen, keine einzige Staude ist zu sehen, nicht einmal Sauerklee, der selbst in den schattigsten, dichtesten Tannenwäldern gedeiht. Nein, nur Moos wächst hier, der Waldboden ist von dunkelgrünem Moos überzogen.
Lange reiten wir schweigend und lauschen ununterbrochen nach Auffälligem. Plötzlich hören wir Stimmen. Frauenstimmen.
Leise nähern wir uns und gelangen in eine Lichtung, zu einem kleinen Häuschen. Davor sitzen drei hutzelige Weiblein auf einer Bank in der Abendsonne und spinnen. Aber wie sie Spinnen! Nur die eine hat ein Spinnrad vor sich, sie tritt und tritt, damit das Spinnrad in Schwung bleibt, gleich neben ihr sitzt ein Weiblein, das den Faden mit den Lippen befeuchtet, der durch ihre Hände gleitet, und dann weiter direkt zu der Spinneden Spinnrad. Neben ihr sitzt ein Weiblein, das Fasern aus einem Beutel Wolle zupft und diese dem zweiten Weiblein weiterreicht, die ihn dann befeuchtet und weitergleiten lässt.
Ich bin wie vom Donner gerührt, denn ich erkenne die Weiblein an ihren Verunstaltungen. Die Tretende hat einen unförmigen, platten Fuss, diejenige, die den Faden befeuchtet, eine überhängende Lippe und die letzte einen übergrossen Daumen.
«Die Weisen Frauen!», entfährt es mir, worauf diese erschrocken aufschauen, dann freundlich lächeln, und uns mit Gesten näher zu kommen heissen, derweil sie das Spinnzeugs wegräumen.
«Kommt, kommt! Wir haben euch erwartet, aber nicht so früh. In einer Woche vielleicht, oder zwei. Kommt, nehmt mit uns das Abendbrot. Danach könnt Ihr unserer Hütte, die dort drüben steht, übernachten.»
Liebe Kathrin, wie wohltuend es doch ist, in einem heimeligen Zuhause zu sein, zumal wenn ein lustiges Feuer brennt, auf dem ein leckeres Mahl köchelt. Mir ist nicht mehr mulmig zumute, im Gegenteil, ich fühle mich sicher und geborgen.
Ich sitze an einem Holztisch, der aus dem Wurzelstrunk einer alten Eiche gefertigt ist und betrachte die Strukturen seiner Oberfläche, seltsame Muster, die mich an geheimnisvolle Runen erinnern, die ich zu entschlüsseln suche, und Muster, die vielfältig gestalteten Mäandern gleichen.
Ich lausche dem Geplapper der Weiblein, die nun nicht mehr schweigsam sind, wie im Schloss – vor wie vielen Tagen erst? Ach, es kommt mir vor, als wäre wir bereits wochenlang unterwegs! – Was wollte ich gleich noch sagen? Ah, ja. Die Weiblein sind nicht länger schweigsam, sondern sie plappern unentwegt, und ihr Geplapper erinnert mich an ihr Spinnen, vorher vor dem Häuschen. Schnurr, schnurr, schnurr.
Das Plappern lullt mich ein, schon gleite ich in einen Halbschlaf, da horche ich auf, bin augenblicklich hellwach.
«Wie geht es Eurem ehrenwerten Vater, mein Prinz, hat er sich in seinem neuen Stand eingewöhnt?»
Moritz, der schmächtige Stallknecht soll ein Prinz sein? Gut, so schmächtig ist er gar nicht. Aber er soll ein Prinz sein? Ein echter, wahrhafter Prinz?