Liebe Kathrin. Du fragst, ob ich wieder eine Adventsgeschichte erzählen oder vielmehr aufschreiben werde? Die Lust zu spintisieren ist mir ein bisschen abhandengekommen, muss ich gestehen, der Schnauf ausgegangen. All die vielen schlimmen und brutalen Nachrichten allenthalben, die vertreiben die fröhlichen Gedanken. Ach, vielleicht liegt es auch an diesem andauernden düsteren, feuchtkalten, regnerischem und windigen Wetter.
Ich soll es einfach wagen, zum Schloss, vielmehr in den Schlosshof gehen oder fliegen, oder wie immer ich dies auch anstelle, mich auf die hölzerne Bank unter den Apfelbaum setzen, die Sonne werde bestimmt scheinen, sagst du, so könnte ich mich aufwärmen. Ich könne meine Blicke in die Ferne schweifen lassen, über das friedliche, liebliche Land. Da und dort würden kleine Weiler eingebettet zwischen Wiesen und Äcker und kleinen Wäldchen liegen. Ich würde die Rosse im Stall oder auf der Weide wiehern und schnauben hören, die Kinder im Schlosshof würden fangen spielen oder Lieder singen. Das würde mich aufmuntern, ermunterst du mich. Der alte Mann würde die Rosen schneiden, oder die Wege wischen. Ach, Kathrin! Du hast leicht reden. Damit ist noch keine Geschichte erzählt.
Und überhaupt: Weisst du wie schwierig es ist, zu erklären, dass ich in eine Märchenwelt abtauche, die ich aber so erzähle, als sei sie Wirklichkeit? Weisst du wie kompliziert es erst wird, wenn all die anwesenden Personen, Königin und König, deren Kinder, die Köchin Berta und ihre Magd Magdalena, auch Robin, die Dienerinnen, und Knechte, der Finanzvorstand, der Jägermeister – einfach das ganze Gesindel, das zum Betrieb des Schlosses gehört, auftaucht und im Märchen, das ich erzähle, eine Rolle spielen möchte? Dass sich so eine Märchenwelt in der Märchenwelt auftut? Der König plötzlich ein Knecht darstellt oder umgekehrt. Die Magd zur Königin wird und .... Ich mag gar nicht dran denken.
Aber so könnte es noch funktionieren, wenn jede und jeder eine Rolle übernehmen und diese auch kongruent spielen würde.
Aber die Schlossgemeinschaft ist keine einfache, lass das dir gesagt sein. Die schauspielern sich vom Erzählstrang weg, dass dir Hören und Sehen vergeht. Oder sie streiken. Oder erfinden das Märchen neu. Plötzlich platzen Gestalten aus anderen Märchen herkommend, in die Geschichte hinein. Es ist ein Drunter und Drüber.
Zu guter Letzt sagen dann diejenigen, die friedlich am Laptop sitzend, die Adventsgeschichte lesen, sie hätten den Faden verloren.
Ha! Als hätte ICH den Faden, irgendeinen Faden in den Händen. Als könnte ich da steuernd eingreifen. Die haben keine Ahnung, die Leser und Leserinnen der Adventsgeschichte. Keine blasse Ahnung!
Ach, weisst du was? Ich pfeife drauf und verschwinde jetzt. Du hast recht. Ich brauche ein bisschen Sonne. Sofort!
Wir befinden uns in dem uns allbekannten und altbekannten Schlosshof. Es ist Frühling. Der Apfelbaum blüht weiss und rosa, Tulpen und gelbe Färberkamillen leuchten in den Rabatten, Gänseblümchen, Wiesenschaumkraut und Schlüsselblumen im Rasen. Die Rosen ranken zwischen Geissblatt und Hopfen blühend und duftend die Schlossmauern empor. Tauben turteln auf den Zinnen der zahlreichen Schlosstürmchen. Der alte Mann stützt sich auf seinen Besen, mit dem er sonst die Wege wischt, und hält sein Gesicht zur Sonne hin, die Augen geschlossen. Die Märchenerzählerin sitzt auf der hölzernen Bank unter dem Apfelbaum, lässt sich von der Sonne wärmen. Auch sie hält die Augen geschlossen, scheint die Ruhe zu geniessen und mit allen Sinnen den wunderbaren Frühlingstag in sich aufzunehmen.
Da schreitet der König himself vom Schloss her geradewegs auf die Märchenerzählerin zu und räuspert sich.
König: Mit Verlaub!
Märchenerzählerin, überrascht: Mein König!
König: Ihr seid da. Dann wird es wieder so weit sein? Ich meine: Ihr, die Märchenerzählerin seid hier! Der König strahlt übers ganze Gesicht.
Märchenerzählerin, seufzend: Es scheint so.
König: Ihr zögert? Aber Ihr werdet ein Märchen erzählen, oder etwa nicht? So will es der Brauch, oder nicht?
Märchenerzählerin: Ich wünschte, ich hätte nur Urlaub bei Euch in Euerem märchenhaften Lande und nichts weiter zu tun.
König: Aber, aber. Also aber meine Liebe, ihr sollt mit allem verwöhnt werden, wie seit ehedem. Wenn ihr nur Euren Pflichten nachkommt, ähm, ich meine, wenn ihr Lust dazu verspürt, ich will sagen ....
Märchenerzählerin: Ich weiss, mein König. Aber ich befürchte ....
König: Genau deswegen bin ich hier. Ich befürchte ebenfalls.
Märchenerzählerin, stutzig: Ebenfalls?
König, sich ereifernd: Oh ja! Ich befürchte, ich erhalte wieder eine böse Rolle. Es gibt keine guten Rollen für Könige in den Märchen. Die Könige sind gierig oder grausam. Oder schlimmer noch: Sie werden übertölpelt, stehen da wie Trottel... oder glänzen durch Abwesenheit. Oder schlimmer noch: Sie machen schöne Versprechungen und halten sie nicht ein. Lassen ihre Liebsten im Stich. Daher befürchte ich .... Ihm ist der Schnauf ausgegangen.
Märchenerzählerin: In der Tat. Gute Könige sind rar. Meistens sind die guten die sterbenden Könige, die auf ihrem Sterbebett ihre Kinder auf eine Schatzsuche schicken, Lebenswasser zu holen oder ähnliches.
König: Ein sterbender, alter König möchte ich nicht spielen, keinesfalls.
Märchenerzählerin: Ich verstehe euch nur zu gut!
König: Könnt Ihr mir deshalb versprechen, dass ich heuer ...
Aber da erscheint ein bisschen arg schnaufend, die gute Berta und hinter ihr Magdalena, Kuchen und Kaffeegeschirr tragend. Weiter hinten folgen ihnen zwei junge Gesellen mit einem hölzernen Tisch, danach all die fröhlichen und emsigen Küchenmägde, die das Geschirr herbeitragen, Kuchen und Torten, Krüge mit Wein, dampfendem Kaffee und gläserne Wasser-Karaffen, in denen Blüten und Blättchen schwimmen. Und Vieles, Vieles mehr.
Berta, ein wenig vorwurfsvoll, an den König gewandt: Wie konntet Ihr nur?
König, verdattert: Ich wollte doch nur, es ist doch wegen ...
Berta: Wie konntet ihr nur die arme Märchenerzählerin ohne Speis und Trank lassen!
König: Ach! Ja, du hast Recht, meine Gute. Ich hätte dich sofort benachrichtigen sollen. Es ging mir eben um meine Rolle als König.
Berta: Ihr seid der König hier. Niemand macht Euch Eure Rolle streitig.
König, zaudernd: Mir geht es nicht um meine Rolle hier. Mir ging es um meine Rolle als ...
Berta, den Kopf schüttelnd: Ach so, Ihr wolltet Euch einen Vorteil verschaffen?
König: Mehr meine Bitte anbringen.
Berta: Eine Bitte? Verträumt: Eine Bitte? Ach, eine Bitte hätte ich auch! Sich um sich selbst drehend. Wenn es möglich wäre, dann würde ich zumindest für kurze Zeit ... meine gedrungene Gestalt gegen eine junge, ranke tauschen ... mein runzeliges Gesicht mit einem glatten, sanften wechseln. Ich würde auch einmal nicht einfach nur die Köchin sein. Obwohl. In bin zufrieden damit, bin ich gerne die Köchin hier, versteht mich nicht falsch. Ich liebe es, von früh bis spät in der Küche zu stehen und in meinem Kräuter- und Gemüsegarten zu arbeiten. Das mag ich sehr. Träumerisch: Aber für kurze Zeit nur – eine Märchenspanne lang – jemand ganz anderes zu sein. Ja, das würde mir guttun, denke ich. Noch verträumter: Etwas Schalk müsste ich versprühen, die Leute ein bisschen hochnehmen oder gar aufs Kreuz legen. Oder eine verkannte Königin sein ...
Noch während sie sich mit ungewohnter Leichtigkeit ein wenig hin und her bewegt, um sich selber dreht, als wäre sie ein junges Mädchen und würde zum Vogelgezwitscher tanzen, erscheint die Königin im Schlepptau ihrer zwei allerliebsten Prinzessinnen Anni und Kathi.
Königin, zur Märchenerzählerin gewandt: Geht es euch gut, meine Liebe? Habt Ihr alles, um Euch zu erfrischen? Nickend: Ich sehe, Berta hat euch wohl versorgt, Magdalena gisst ja bereits den Kaffee ein. Bedient Euch. Zu den Prinzessinnen gewandt. So lasst uns setzen und den Nachmittag mit Kuchen und Tee feiern und uns auf den Beginn des Märchens vorfreuen. Mit einem Nicken zum König hin und zur Märchenerzählerin gewandt: Er hat euch bestimmt bereits erklärt, dass er gerne ein fescher Jägersmann spielen möchte, oder irgendwen, nur kein König. Lieber ein Zwerg oder Troll, oder Riese oder Graf oder Küchenjunge.
Prinzessinnen, unisono: Wir möchten auch mitspielen! Nicht nur Zuschauerinnen sein. Bitte, bitte, liebe Märchenerzählerin. Wenn es auch nur eine kurze Rolle sein wird. Lass uns mitspielen!
Magdalena, bescheiden, die königliche Familie und die Märchenerzählerin bedienend, mit einem leisen Seufzer, zu sich selbst, und sehr leise: Das würde ich auch gerne tun. Mitspielen.
Märchenerzählerin, im Dunkeln sitzend, nur ein Lichtstrahl beleuchtet sie, als würde sie auf einer Bühne sitzend von einem einzelnen Scheinwerfer angestrahlt.
Siehst du, liebe Kathrin, wie schwierig das alles ist? Ich wollte eigentlich das Märchen vom Mädchen ohne Hände erzählen. Dort hätte der König die Rolle des Müllers gespielt, welcher vom Teufel auf Übelste überlistet wurde und zuletzt dem eigenen, geliebten Kind die Hände hätte abhacken müssen. Das geht nun nicht mehr. Ich muss umdenken. Was sagst du da? Dies Märchen wäre eh zu brutal und deshalb nicht kinderfrei? Es geht ums Symbolische, meine Liebe, dass der Müller sein Kind nicht bedingungslos liebt. Dass das Mädchen sich um sich selbst und sein Glück kümmern muss, aber zuletzt obsiegt. Und selbständig wird. Die andere Müllergeschichte kann ich nun auch nicht mehr erzählen. Da geht es um die Angeberei und eben um die fehlende bedingungslose Liebe zum eigenen Kind. Was sagst du da? Du wünschst dir ein liebliches Märchen, ohne Tod und Verderben? Sind sie denn nicht alle auf irgendeine Art grausam? All die vielen Märchen in den dicken Märchenbüchern? Kinder werden allein in den Wald geschickt, ausgesetzt und verstossen, oder eingesperrt, vergiftet und weiss Gott noch alles. Kinder müssen Hexen in den Ofen schieben, Tiebräuche aufschneiden und sie mit Wackersteinen füllen und obendrein wieder zunähen, und vieles, vieles Grausliche mehr. Die Bösewichte wiederum werden gevierteilt, in mit Nägeln gespickte Fässer gesteckt, die man den Hügel hinunterrollen lässt, oder auf dem Scheiterhaufen elendiglich verbrannt. Aber du, du verlangst ein liebliches Märchen?
Plötzlich ist es wieder hell. Es ist immer noch Kaffee und Kuchenplausch unter dem blühenden Apfelbaum. Der alte, Mann, der den Besen beiseitegestellt hat, ist ebenfalls zum Tisch getreten und stupst die Märchenerzählerin leicht an.
Alter Mann: Geht es Euch gut? Ihr wirktet abwesend, wie der Welt entrückt.
Märchenerzählerin, gibt sich einen Ruck: Es ist alles gut. Danke dir. Ich war nur mit meinen Gedanken ganz woanders. Komm, setz dich neben mich. Die Kuchen sind einfach zu köstlich!
Wird da nicht die Sonne ein wenig heller? Nicht grell, sondern wärmender. Hört man nicht ein hauchfeines Klingeln in der Luft? Wie von tausend kleinen Himmelsglöckchen. Jetzt! Jetzt hört man Hufgetrappel, jemand nähert sich im Galopp dem Schloss. Noch sieht man nicht, wer da herankommt. Es geht ein Strahlen von der herankommenden Person aus, obwohl sie noch nicht sichtbar irgendwo im Gelände verdeckt hinter der Schlossmauer herannaht. Vögel beginnen zu jubilieren, federleichte Schmetterlinge fliegen auf und erfüllen die Luft.
Die Antlitze der Anwesenden beginnen zu leuchten. Und zu lächeln. Die Märchenerzählerin sitzt verwundert mitten unter ihnen, staunend und gespannt, wer da kommen wird. Das Ross, so hört man jetzt, muss vom Galopp in den Schritt gefallen sein. Und jetzt! Jetzt taucht eine leuchtende Gestalt hoch zu Ross auf. Ein lächelndes Mädchen, mit goldenem Haar, glänzend wie die Sonnenstrahlen, gekleidet mit einem hellblauen Gewand. Jetzt gleitet das Mädchen geschmeidig von einer schwarzen Stute. Ein Leuchten breitet sich auf des Königs Antlitz. Er steht auf, eilt dem Mädchen entgegen, fasst es um die Hüfte und wirbelt es herum.
Lisa: Aber Papa, nicht so wild!
Der Angesprochene setzt es sanft und liebevoll auf den Boden.
Königin: Gut, dass du kommst, Lisa. Bald hätten wir das letzte Stückchen des Kirschkuchens, denn du ja so gerne hast, aufgegessen. Beinahe hättest du dein eigenes Geburtstagsfest verpasst.
Anni und Kathi unisono: Und erst der Schokoladenkuchen! Himmlisch! Den musst du unbedingt kosten.
Kathi: Aber mit Schlagsahne, da schmeckt er gleich doppelt so lecker. Nachdenklich: Vielleicht kostest du gescheiter zuerst den Erdbeerkuchen! Oder das Lavendeleis? Schwärmerisch: Oder vielleicht doch die Marzipantorte? Ein Gedicht! Am besten probierst du einfach all die vielen leckeren Köstlichkeiten, liebes Schwesterchen!
Lisa, neckend: Wir wissen alle, was für ein Schleckmaul du bist, liebe Kathi.
Märchenerzählerin noch immer verwundert zur Königin: Wer ist das strahlende Mädchen?
Königin, freudig: Aber das ist doch Lisa, unsere Tochter, die jüngste. Fünfzehn Jahre alt wird sie heute. Ihr Vater hat ihr das schwarze, edle Pferd zum Geburtstag geschenkt.
Märchenerzählerin, immer noch verwundert: Ich sehe das Märchen zum ersten Mal.
Königin, nun ebenfalls erstaunt: Wie konntet Ihr sie nicht bemerken? Sie versprüht einen Zauber, der alle in den Bann nimmt. Wenn sie in ein Zimmer tritt, ist es, als ob der Frühling selber eintreten würde. Allen wird leichter ums Herz. Und wenn sie weint, was Gott sei Dank selten geschieht, da fallen ihr anstelle von Tränen Perlen aus den Augen. So besonders ist sie.
Zu allen gewandt: Aber lasst uns nun weiter Geburtstag feiern, denn auch ich habe ein Geschenk für meine liebe Lisa, über das sie sich bestimmt freuen wird.
Sagt’s, greift in die Tasche und nimmt ein kleines Päckchen hervor und reicht es Lisa, die es öffnet und einen leisen Schrei ausstösst. Es ist ein kleines Büchschen aus einem einzigen Smaragd gefertigt. Lisa öffnet das Büchschen: eine winzig kleine Perle liegt darin.
Königin, erklärend: Das war deine erste Perlenträne, die du geweint hast, kurz nachdem du zur Welt kamst. Ich habe sie wohl aufbewahrt und schenke sie dir jetzt. Das Büchschen ist uralt, es kommt aus einem fremden, weit entfernten Land, von einem der heiligen drei Könige soll es herstammen. In Gedanken verloren: Von Balthasar wird nämlich berichtet, dass er der heiligen Maria so ein kleines, aus einem einzigen glasklaren, grünen Smaragd geschnittenes Büchschen geschenkt habe. Eine winzige Perle soll darin gelegen haben. Vielleicht war es auch eine Freudenträne der Maria über die Geburt ihres kleinen Söhnchens. Die Perle ging verloren, das Büchschen verschenkte Maria einer ägyptischen Dame, die ihnen Obdach gewährte. Dann, so die Legende, ...
Anni und Kathi die Königin unterbrechend: Wir haben auch ein Geschenk für Lisa. Sagen es und nehmen ein in Seidenpapier gehülltes Päckchen hervor und reichen es Lisa. Diese öffnet es und stösst nochmals einen kleinen Freudenschrei hervor. Es ist ein wunderschönes, mit kleinen silbernen und goldenen Pailletten besticktes, seidenes, hellblaues Kleid.
Lisa, sichtlich gerührt: Wie schön, wie unsagbar schön.
Anni: Wir wissen doch, dass du schöne Kleider liebst, vor allem hellblaue!
Kathi zu Anni, neckisch: Wer hier am Tisch ist es, welche schöne Kleider über alles liebt? Hm? Das bist wohl du, meine liebe Anni. Denk nur an das scharlachrote mit dem goldenen Schal, oder das nachtblaue, mit Sternen bestickte, oder ...
Anni, lachend: Du hast mich überführt! Ich gebe es zu: Ich stehe auf schöne Kleider und Schuhe und ... träumerisch: Blusen, Röcke, Kostüme ...
Kathi: Ja und du brauchst dazu sieben Schränke, um deine Lieblingsstücke zu verstauen, derweil ich nur einen einzige benötige.
Ach, es ist eine Freude, der königlichen Familie und überhaupt der ganzen Tischgemeinschaft zuzusehen. Sie sind so fröhlich, ausgelassen, necken sich, lachen und lassen es sich gut schmecken.
Da erhebt sich der König, majestätisch. Er hebt sein Weinglas und schlägt ganz sanft mit einem Löffelchen daran, dass es klingt, als hätte eine Glöcklein geläutet. Das Geplauder verstummt. Alle schauen erwartungsvoll zum König.
König: Ich muss euch etwas verkünden. Ich möchte die Zukunft meines Königreiches heute regeln. Nicht dass noch Streit ausbricht, wenn ich einmal sterben werde.
Kathi, erschrocken: Bist du etwa krank, mein allerliebster Papa?
König: Nein, mein Kind, mach dir keine Sorgen. Noch bin ich gesund und munter. Und trotzdem will ich heute regeln, wer von euch dreien mein Reich erben wird.
Anni: Wir wollen nichts erben, lieber, allerliebster Papa. Wir wollen bis in alle Ewigkeit mit euch allen weiterleben, hier. Sonst nichts.
König: So ist das Leben eben nicht, liebe Anni. Das Leben dauert nur in den Märchen ewig. Aber hier auf Erden ... Aber lasst mich jetzt fortfahren.
Lisa: Wir könnten dein Reich gemeinsam regieren und verwalten, lieber, gütiger Papa.
König, etwas ungehalten: Wollt ihr mich nun ausreden lassen oder nicht?
Die Märchenerzählerin ist erneut allein in einem dunkeln Raum, wie von einem einzelnen Scheinwerfer erleuchtet.
Hast du nun bemerkt, liebe Kathrin, wie sich alles einfädelt ohne mein Zutun? Noch eben war ich als Märchenerzählerin in einer realen Märchenwelt. Mit der Königin, dem König und ihren Kinder und ... wem auch immer. Wir sassen fröhlich unter dem Apfelbaum und liessen es uns schmecken. Und einen Augenblick später finde ich mich nichtsahnend mitten in einer mir fremden Geschichte. So vermute ich es zumindest. Der König und die Königin verhalten sich sonderbar, wie ich sie noch nie erlebt habe, ebenso die beiden Prinzessinnen Diese Lisa – ich habe sie noch nie gesehen. Mir sind nur zwei Prinzessinnen bekannt, aber die hatten andere Namen. Es gab bisher keine dritte Prinzessin... Auch wenn ... sie erinnert mich vage an jemanden anderen. Wenn ich's nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie erinnert mich an Magdalena, die Küchenmagd. Was aber nicht sein kann, denn jene hat dunkles Haar und ist älter. Kurz und gut, liebe Kathrin. Schwupps bin ich nicht länger mehr die Erzählerin. Im Nu wurde ich zur Zuschauerin degradiert. Allenfalls darf ich das Ganze beobachten und protokollieren. Was sagst du? Ich soll meinen Mund halten und endlich weitererzählen? Du möchtest jetzt unbedingt wissen, an wen der König gedenke, sein Reich zu vererben?
Szenenwechsel. Wieder zurück im Schlosspark an der Geburtstagsparty von Lisa.
Der König steht nach wie vor aufrecht, Berta schenkt ihm neuen Wein ein.
Da herrscht er sie an: Ich brauche keinen Wein. Ich brauche etwas Stärkeres. Haben wir noch Cognac? Nein, ein alter, ehrwürdiger Armagnac wäre noch besser.
Alle sind verstummt. Verstehen nicht, was der plötzliche Ausbruch des Königs bedeutet. Endlich erscheint der Kellermeister mit einer Flasche tiefdunklen Armagnacs und einem wundervoll geschwungenem Glas.
Kellermeister, sich verbeugend und das Glas einschenkend: Mein König!
König, am Glas nippend: Herrlich!
Er schwenkt das Glas, schnuppert, atmet tief ein und nimmt einen wirklich einmalig grossen, eines Königs würdigen Schluck.
König, gibt sich einen Ruck: Ihr Lieben. Meine Lieben! Es fällt mir nicht leicht. Auch ich, so müsst ihr mir glauben, will kein sterbender König sein. Mit einem Augenzwinkern zur Märchenerzählerin: Ihr erinnert Euch?
Die Märchenerzählerin erleidet einen Hustenanfall, worauf der alte Mann sich liebevoll vorbeugt und ihr etwas ins Ohr flüstert. Sie schüttelt den Kopf.
Der König, wieder zu allen gewandt: Ja, es fällt mir nicht leicht, die Dinge heute zu regeln. Aber wie gesagt, ich möchte nicht auf dem Sterbebett irgendeinen Unsinn anordnen. Da sei Gott vor. Jetzt sieht er seine drei Töchter eidringlich an: Meine Töchter, niemand weiss, wann sein letzter Tag kommt, auch ich nicht. Deshalb möchte ich heute bestimmen, was eine jede nach meinem Tod erhalten soll. Mit einem tiefen, seufzenden Atemzug, ach, man merkt nur zu gut, wie schwer ihm seine Rede fällt: Ihr alle habt mich ja lieb, aber welche mich am liebsten hat, die soll das Beste erhalten.
Ein Raunen geht durch die Menge. Berta schüttelt den Kopf. Die Königin greift sich ans Herz.
Königin: Rudolf! Wie kannst du nur!
Anni, Kathi und Lisa unisono: Wie kannst du an unserer Liebe zu dir zweifeln? Wir haben dich alle lieb. Alle gleich lieb! Es gibt keinen Unterschied zwischen unserer Liebe zu dir!
Der König setzt sich enerviert in seinen königlichen Sessel: Ihr wollt mich nicht verstehen, scheint mir.
Königin: In der Tat. Ich verstehe dich ganz und gar nicht. Wie kannst du zwischen Liebe und Liebe entscheiden. Angewidert: Du bist ein Idiot!
Märchenerzählerin, leise zur Königin gewandt: Gabe es je Eifersüchteleien zwischen Euren Töchtern?!
Königin, mit einem entrückten Lächeln: Nein, nie! Gewiss, es gab ab und zu Streiterei. Es sind ja Geschwister, das gehört dazu. Aber nie, nie, nie hat sie ein Zwist entzweit. Anni und Kathi sind Zwillinge, die waren seit jeher ein Herz und eine Seele. Und Lisa – ihr habt sie ja selber erlebt: Sie hat eine himmlische Gabe. Wo immer sie auch erscheint, wird allen leichter ums Herz. Sie ist die Versöhnung in Person!
Märchenerzählerin, sorgenvoll: Bei ihrem Vater scheint ihre Gabe nicht zu wirken.!
Der König stellt sein leeres Glas auf den Tisch, steht mit neuem Elan auf, und wiederum eindringlich seine drei Töchter fixierend: So sagt mir jede, wie sie mich liebt. Beschreibt sie mir eure Liebe, macht mir ein Beispiel dazu. Dann kann ich sehen, wie ihrs meint!
Kathi, zögerlich: Nun, wenn es denn sein muss: Ihr alle kennt mich ja, ich liebe Süssigkeiten über alles. Ihr nennt mich zurecht ein Schleckmaul. So sage ich dir, Vater, ich liebe dich wie den süssesten Zucker.
Anni, ebenfalls sehr zögernd: Ich liebe schöne Kleider, wie ihr alle wisst. Ihr macht euch immer wieder lustig über meinen Marotte. Ich muss ja oft selber über mich lachen, ich mit meinen eintausendundeinen verschiedenen, zauberhaft schönen Kleidern, von denen ich kein einziges missen will. So sage ich dir Vater, ich liebe dich wie mein allerschönstes Kleid.
Lisa schweigt. Alle warten, dass auch sie sich erhebt und ihrem Vater ihre Liebe zu ihm schildert. Doch Lisa schweigt. Der König lächelt sie an.
König, ermunternd: Und du, mein liebstes Kind, wie lieb hast du mich?!
Lisa: Ich weiss nichts. Ich kann meine Liebe zu dir mit nichts vergleichen.
König: Ich beschwöre dich. Versuche es. Ich bestehe darauf!!
Lisa, zögernd: Nun denn. Die beste Speise schmeckt mir nicht ohne Salz. Selbst das Brot, selbst der beste Kuchen würde nicht schmecken, wenn nicht zumindest eine kleine Prise Salz darin wäre. Darum, liebster Vater, ich habe dich so lieb, wie ich das Salz lieb habe.!
Der König hält den Atem an. Eine dunkle Falte furcht sich steil in seine Stirn. Sein Gesicht rötet sich. Alle Schweigen. Alle harren erschrocken der Dinge, die da kommen werden, will sagen, was der König zu seiner liebsten Tochter Liebeserklärung sagen wird.
König, jetzt purpurrot im Gesicht und schäumend vor Wut brüllt: Wenn du mich so liebst wie Salz, so sollst du mit Salz belohnt werden. Ich teile mein Reich unter deinen beiden älteren Schwestern auf. Aber du, du – Abschaum, Undankbare – dich verweise ich aus meinem Königreich. Ich möchte dich nicht mehr sehen, nie mehr. Du sollst meine Tochter nicht sein. Weg! Geh mir aus den Augen! SOFORT!
Nimm es mir nicht übel, liebe Kathrin, dass ich gestern nicht mehr weiterschreiben konnte: Nach dem königlichen Wutausbruch war ich so bestürzt. Ich musste zuerst einmal darüber schlafen.
Ja, ich war fassungslos. Wir alle waren fassungslos und entsetzt, als der König seine jüngste Tochter mit so harten, und erbarmungslosen Worten aussprach und sie vom Hof vertrieb. Ich blickte zur Königin. Ihre Augen waren aufgerissen, ihr Mund ebenso, also würde sie schreien, aber es kam kein Laut über ihre Lippen. Ihre Hände hielt sie in Höhe des Kopfes, also müsste sie ihren Mund dazu bringen, endlich loszuschreien. Ein stummer Schrei. Das hat mich zutiefst erschüttert, mehr noch als die unsäglichen zornigen Worte des Königs. Alle waren wir verstummt. Selbst die Vögel hatten aufgehört zu zwitschern und jubilieren. Selbst der sanfte Wind, der vorhin noch die frühlingsgrünen Blätter der Bäume sanft gewiegt hatte, ja selbst der Wind war verstummt. Auch die unzähligen Blüten hatten ihre Leuchtkraft verloren. Farblos und ermattet sassen oder hingen sie an ihren Stängeln.
Auf einmal, als wäre ein Damm gebrochen, begann die Königin zu schreien. Es war ein unmenschlicher Schrei. Wie derjenige eines Schafes, das von einem Wolf lebendigen Leibes zerrissen wird. Die Prinzessinnen begannen herzerweichend zu weinen und rannten zu ihrer jüngeren Schwester, hielten sich gegenseitig fest. Alle seufzten, weinten, schluckten schwer. Nur Lisa stand noch immer da, als wäre sie erstarrt, in den Armen ihrer Schwestern. Starr starrte sie ihren Vater an. Dieser hielt ihrem Blick stand, unbeweglich und starr auch er.
Ich erwartete jeden Moment, dass ich aus einem bösen Albtraum erwachen würde, dass das Geschehene gar nie stattgefunden hätte. Es konnte doch nicht wirklich geschehen sein. Ich blinzelte, rieb mir die Augen. Ich kniff mich in den Arm. Es war Wirklichkeit.
Endlich bewegte sich der König. Seine Miene war eiskalt. Er machte einen Schritt auf Lisa zu. Nein, ich hatte mich getäuscht, er schritt erhobenen Hauptes zum Schloss, ohne Lisa noch eines Blickes zu würdigen. Lisa, immer noch starr, aber Perlen rieselten wie ungewollt aus ihren Augen.
Als erste fasste sich Berta, die Küchenkönigin, die pragmatische, geerdete. Sie fasste Lisa bei den Armen und zerrte sie weg vom Hof zum Schloss. Kurze Zeit darauf führte sie Lisa zum Tor. Lisa, in einem praktischen, wettersicheren Gewand gekleidet, mit einem Sack auf dem Rücken. Ich ahnte mehr, als dass ich wusste: Das Wichtigste für das Leben in der Wildnis hatte Berta in diesen Sack gepackt. Doch würde Lisa ohne allen königlichen Support überleben, da draussen im Wald, jenseits des Königreichs?
Lisa hatte nicht aufgehört zu weinen. Es war ein stilles, stummes Weinen. Nur die herabkugelnden Perlen zeugten von ihrer tiefen Trauer. Die Königin war endlich aus ihrer Erstarrung erwacht, eilte Lisa hinterher, doch diese wehrte die Umarmung ihrer Mutter ab, schüttelte sie weg, wie eine lästige Fliege oder Mücke. Lisa schaute nicht mehr zurück. Sie schritt geradewegs aus dem Tor des Schlosses und entschwand unseren Blicken.
Ich bin Zeugin des Geschehens. Auch ich schaute nur zu. Auch ich schwieg, noch immer fassungslos. Der alte Mann, der Gärtner, der Rosenzüchter, hielt mir ein weisses Taschentuch hin. Ich verstand nicht. Er trocknete mir mit dem Taschentuch über meine tränennassen Wangen. Ich weine noch immer. Es ist Morgen. Ein neuer Morgen. Doch ich kann nicht aufhören zu weinen. Ich weinte mich in den Schlaf, ich weinte in meinen Träumen. Ich weinte beim Erwachen.
Berta, so bestürzt wie wir alle, hat uns einen Trunk gereicht, gestern. Er war bitter und süss zugleich. Roch nach Lavendel, Rosenblüten und Orangen, ein wenig nach Nelken und Muskatnuss, doch er hatte die Bitterkeit von Wermut.
Ich blicke aus dem Fenster in den Hof des Schlosses. Der Tisch steht noch dort, das Geschirr wurde nicht weggeräumt. Sogar angeschnittenen Kuchen stehen noch auf dem Tisch. Ein Katze leckt den Rahm aus der Schüssel.
Ach, liebe Kathrin, ach, wäre ich doch nie hier zurückgekehrt. Ich habe mir Wärme und Frieden erhofft. Eine erfreuliche Geschichte, lieben und anregenden Kontakt mit den mir hier so vertrauten Menschen. Wer hätte je gedacht, dass es so eine Wende nehmen würde.